Verfassungsschützer schlägt Alarm: „Der Rechtsstaat wird ausgehöhlt“

Gregor S. arbeitet beim deutschen Inlands-Geheimdienst. Er sagt: „Was gestern legale Kritik war, kann heute ein Grund sein, ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten.“

Als Gregor S. den Dienst beim Verfassungsschutz antrat, war er voller Ideale. Er wollte Deutschland beschützen – vor Rechtsextremen, vor Linksextremen, vor radikalen Islamisten, vor allen, die dem Land, seinem Grundgesetz und den rund 80 Millionen Bewohnern Schaden zufügen möchten. Doch nun wurde er vom Verfassungsschutz selbst zum Sicherheitsrisiko erklärt. Weil er – wie er sagt – „die unglaublichen Zustände und Missstände in dieser Behörde angesprochen“ hat. Er sagt in diesem Zusammenhang auch, dass der Verfassungsschutz zunehmend unbescholtene Bürger ins Visier nehme. Gregor S.: „Die Ängste vieler Menschen, dass hier derzeit ein Überwachungsstaat wie in der DDR aufgebaut wird, diese Ängste sind nicht ganz unberechtigt, ja.“

Wir treffen uns mit Gregor S. in einer Berliner Altbau-Wohnung in Friedrichshain. Gregor S. ist aus Sicherheitsgründen ein geänderter Name, die wahre Identität ist der Redaktion bekannt und wurde überprüft. Der 36-Jährige hat lange mit sich gerungen, bevor er einem Treffen zugestimmt hat, und auch jetzt redet er nur im Beisein seiner Anwältin Christiane Meusel. Meusel, 56 Jahre alt, stammt aus der DDR, sie wuchs in kirchlichen Kreisen der DDR-Friedensbewegung auf.

Sie weiß aus eigener Erfahrung, wozu ein Überwachungsstaat fähig ist: Meusel wurde, so sagt sie im Eingangsgespäch, „damals festgenommen, weil ich den Aufnäher ‚Schwerter zu Pflugscharen‛ trug“. Nach der Wende arbeitete die Juristin dann sechs Jahre beim Verfassungsschutz – und verließ den Dienst desillusioniert wieder.

„Ich weiß, wozu der Verfassungsschutz fähig ist“

„Ich weiß daher aus eigener Erfahrung, wovon mein Mandant spricht. Und ich weiß, wozu der Verfassungsschutz fähig ist, wenn man sich mit ihm anlegt.“ Der Gang an die Öffentlichkeit soll nun helfen, dass „nichts vertuscht und unter den Teppich gekehrt“ werden kann, sagt die Anwältin. „Die Menschen müssen erfahren, was da Tag für Tag passiert beim Verfassungsschutz“, sagt der Verfassungsschützer.

Als S. vor Jahren zum sächsischen Verfassungsschutz kam, war er bereits kein Anfänger mehr. Zuvor war er bei der Bundeswehr, er arbeitete beim hessischen Verfassungsschutz, absolvierte zudem ein nachrichtendienstliches Studium beim Bundesamt für Verfassungsschutz. „Ich habe den Job von der Pike auf gelernt und bin quasi studierter Nachrichtendienstler. Offiziell heißt das Diplom-Verwaltungswirt, Fachbereich Nachrichtendienste.“

In Sachsen wurde er dann „VP-Führer“ (Vertrauensperson-Führer) in der Beschaffung von Informationen. „Ich war also ein nachrichtendienstlich operativer Mitarbeiter, der den Auftrag hat, menschliche Quellen zu führen und gemäß Auftragslage Informationen über extremistische Bestrebungen zu beschaffen.“ Kein Schreibtischjob, wie er sagt: „Ein Großteil der Arbeit findet draußen im Feld statt, ich arbeite ja mit Menschen, die meine Quellen sind. Natürlich muss man auch Berichte schreiben, aber den Großteil meiner Arbeitszeit war ich draußen – eben im Feld, wie es hier heißt.“ Doch in der täglichen Arbeit herrschen laut S. „Zustände, die die Arbeit nicht nur erschweren, sondern den Dienst in seiner Gesamtheit völlig dysfunktional machen“.

Antifa, Neonazis und islamistische Gefährder

So habe der Dienst zum Beispiel keine unregistrierten SIM-Karten, weder für den eigenen Gebrauch noch für Kontaktpersonen. Damit sei letztendlich immer nachvollziehbar, von wem die SIM-Karte ursprünglich stamme und wem das Telefon gehöre. „Und das kann für alle Beteiligten schnell gefährlich werden.“ Auch die Einsatzfahrzeuge des sächsischen Verfassungsschutzes seien „offiziell auf das Innenministerium des Landes angemeldet“. Über eine simple Halterabfrage könne also „jeder mit ein wenig Einfallsreichtum bei den entsprechenden Ämtern herausfinden, auf wen die Fahrzeuge angemeldet sind, mit denen verdeckt operierende Nachrichtendienstler wie ich herumfahren. Und das war’s dann mit der Tarnung.“

Das könne dann „sehr schnell sehr gefährlich werden, wenn etwa die örtliche Antifa oder auch eine Neonazi-Truppe oder islamistische Gefährder wie auch Mitglieder ausländicher Nachrichtendienste auf diese Weise herausfinden, wer aus ihren Kreisen in Wahrheit zum Verfassungsschutz gehört, nur weil er mal in einem unserer Autos gesehen wurde“. Dazu komme, dass „viele Kollegen überhaupt nicht in der Lage sind, sich im Fall der Fälle zu wehren und verteidigen“.

Es gebe „keinerlei angemessene Möglichkeit“ seitens der Behörden, „einen Kampfsport oder zumindest ausreichend Selbstverteidigungskünste zu lernen oder zu trainieren“, sagt S. Er selbst sei diesbezüglich „zwar stabil aufgestellt, weil ich vor meiner Zeit beim Dienst lange Jahre als Soldat gedient habe“. Aber damit sei er „eher die Ausnahme“.

„Das Ausland lacht über unseren Verfassungsschutz“

Auch an anderer Stelle werde „der Schutz der Leute vor Ort“ von der Bürokratie „regelrecht geschreddert“, sagt S. So sei er selbst vor nicht allzu langer Zeit „zu einem Treffen gefahren, bei dem ich nicht sicher war, ob ich nicht zuvor aufgeflogen und das Treffen womöglich eine Falle der Gegenseite war“. Also habe er ein Schutzteam angefordert – ausgebildete Männer und Frauen, die derartige Treffen getarnt beobachten und bei einer Eskalation eingreifen können.

„Um ein Schutzteam zu bekommen, muss man aber Anträge stellen, die genehmigt werden müssen. Und das dauert in der Realität viel zu lange. Man kann seinen Kontaktpersonen ja schlecht sagen: Sorry, wir können uns nicht treffen, mein Vorgesetzter muss erst noch einen Antrag unterzeichnen.“ Nach seinen Worten verzichten „einige Kollegen dann eben auf einen Schutzteam. Und gehen damit ein verdammt hohes Risiko ein.“ Andere hingegen würden Dienst nach Vorschrift machen – „mit den entsprechenden Folgen“.

Zudem gebe es „immer wieder völlig sinnfreie und zeitraubende Diskussionen mit der Abrechnungsstelle im Amt darüber, warum man welchen Kontakt zum Essen eingeladen hat und warum man bei einer stundenlangen Observation zwei statt nur einen Kaffee getrunken hat“, sagt S. Das sei für sich genommen „zwar kein Beinbruch“, aber in Kombination mit den sicherheitsrelevanten Defiziten ergebe sich ein „Arbeitsumfeld, das völlig unprofessionell ist und in dem der Dienst seine Aufgabe nicht erfüllen kann“. Von daher sei es „auch kein Geheimnis, dass das Ausland über unseren Dienst lacht“.

Sind Ängste vor einem neuen Überwachungsstaat gerechtfertigt?

Das Bild, das Gregor S. uns in stundenlangen Gesprächen und mehreren Treffen aufzeigt, ist also das eines Behördenapparates, der sich mit einer schier endlosen Zahl an Vorschriften selbst zu lähmen scheint – neudeutsch würde man hier von völlig ausuferndem Micromanagement sprechen. Aber wieso kann ein Dienst, der – zumindest nach Darstellung von Gregor S. – nahezu handlungsunfähig ist, der Bevölkerung gefährlich werden? Wieso sind Ängste, dass hier ein neuer Überwachungsstaat installiert wird, dann womöglich gerechtfertigt?

„Das ist kein Widerspruch, sondern Teil der Erklärung“, sagt S. Weil der Dienst es „mit ernstzunehmenden Gegnern wie wirklich gewaltbereiten Links- oder Rechtsterroristen oder radikalen und teils kriegserfahrenen Islamisten nicht aufnehmen kann, kümmert er sich zunehmend um Leute, die eigentlich gar kein Fall für den Verfassungsschutz sind. Und in der Vergangenheit auch nicht waren.“

Ein Beispiel hierfür, sagt der 36-Jährige, sei die neue Extremismus-Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Hier würden „durch eine Umdeutung und Pervertierung der Sprache“ neue Stichwörter geschaffen, durch die Menschen bereits zum Verdachtsfall werden würden. „Was gestern legale Kritik war, kann heute ein Grund sein, ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten“, sagt S. Und weiter: „Plötzlich wird versucht, auch Menschen zu diskreditieren, zu dämonisieren und auszugrenzen, bei denen das vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen wäre. Bei denen man gesagt hat, das ist doch alles im völlig normalen und verfassungsmäßigen Rahmen.“

„Wir durchleuchten den Arbeitgeber, die Geliebte und die Kumpels, die zum Grillen kommen“
Man müsse sich bewusst machen, wie ein Nachrichtendienst arbeitet: „Wenn man etwa eine Organisationsstruktur aufklären will, guckt man sich natürlich auch an, mit wem die Zielpersonen verkehrt. Und dann überprüfen wir auch diese Leute. Wir durchleuchten das Umfeld, den Arbeitgeber, die Geliebte, die Kumpels, die zum Grillen kommen, also eigentlich alles, was wir finden können. Wir versuchen, ein Gesamtbild zu bekommen. Das machen wir nach handwerklichen Regeln, und diese Regeln sind für alle gleich, egal ob Linksextremist oder Staatsdelegitimierer. Wir machen alles, was das Handwerk hergibt und fahren alles auf, was wir bei echten Extremisten auch auffahren.“

Und das könne nun „auch jemanden treffen, der lediglich die Grünen nicht mag und ein nach offizieller Lesart staatsdelegitmierendes Plakat aufhängt, ein entsprechendes Schild bei einer Demo hochhält oder einen entsprechenden Post in sozialen Medien absetzt. Das reicht schon aus.“

In diesem Zusammenhang sagt S. im Gespräch mit unserem Reporter, er sehe derzeit „die ganz große Gefahr, dass der Dienst instrumentalisiert wird, etwa für politische Zwecke“. Aus seiner eigenen „behördlichen Praxis“ wisse er gut, wie das laufe: „Es gibt Informationen, die sollen aufgenommen werden, die werden dann auch weiterverarbeitet und daraus erfolgen dann auch weitere Maßnahmen. Und es gibt Informationen, die sind nicht erwünscht, die sind unbequem. Und die werden dann ignoriert.“ Das seien vor allem „Informationen mit Bezug auf extremistische Tendenzen oder Entwicklungen, auf radikale Strömungen innerhalb etablierter Parteien. Die möchte man nicht sehen und nicht hören.“

„Da traut sich der Verfassungsschutz schon gar nicht mehr ran“

Konkret würde es hier, so der Vorwurf des Mannes, um „die SPD, die Grünen und die Linke“ gehen. So würde man „gewisse gewaltbereite Strömungen etwa bei der Linken“ nicht sehen wollen, bei den anderen Parteien seien es auch „strukturelle, organisatorische und ideologische Überschneidungen“ mit Szenen, die ihrerseits eigentlich relevant „für den Dienst“ seien. „Aber da traut sich der Verfassungsschutz schon gar nicht mehr ran.“ Offiziell sei der Verfassungsschutz zwar politisch neutral. „In der Realität ist es aber nun mal so, dass diese Behörde eine Behörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums ist“, sagt S. Und hier gebe es wie in jedem größeren Unternehmen auch ein „sehr enges Geflecht an persönlichen Kennverhältnissen. Und natürlich wird in so einer Melange auch hinter verschlossenen Türen gesprochen und werden Absprachen getroffen. So funktioniert das System nun mal.“

Sorge bereitet S. das alles, weil er nach seinen Worten „aus eigener Erfahrung weiß, wie brutal der Dienst sein kann“. Hier ist S. mittlerweile persona non grata, nachdem er seine Kritik an den Arbeitsumständen intern zur Sprache gebracht hatte. Seine Anwältin sagt: „Mein Mandant hat zahlreiche Beschwerden seiner Kollegen in einem Vermerk notiert, also sachlich aufgeschrieben und eine Art Bilanz erstellt mit konstruktiven Vorschlägen, wie man etwas besser machen könnte. Das ist ihm nicht gut bekommen: Er ist daraufhin zum Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen zu einem Gespräch eingeladen worden. Der zuständige Abteilungsleiter war auch anwesend. Und dieses Gespräch war nicht sehr freundlich, vorsichtig ausgedrückt.“

„Mein Mandant gilt als Nestbeschmutzer und soll kaltgestellt werden“

Anschließend, so die Juristin, sei es „richtig losgegangen“. „Zunächst bekam mein Mandant eine aus unserer Sicht völlig ungerechtfertigte miserable Dienstbeurteilung. Dann wurde ihm vorgeworfen, er habe Fehler bei der Arbeit begangen und in diesem Zusammenhang entzog man ihm schließlich die Sicherheitsermächtigung und eröffnete ein Disziplinarverfahren. Ohne Sicherheitsermächtigung darf mein Mandant die Liegenschaft nicht betreten.“ Anwältin Christiane Meusel ist überzeugt, dass die Vorwürfe haltlos sind.

Meusel: „Mein Mandant gilt als Nestbeschmutzer und soll deswegen entfernt und kaltgestellt werden.“ Meusel sagt, sie wisse auch aus eigener Erfahrung und ihrer Zeit beim Verfassungsschutz, dass Fälle wie der von Gregor S. kein Einzelfall seien. „Es würde mich freuen, wenn auch andere Betroffene den Mut finden würden, darüber zu sprechen. Es sind ja Menschen, die man so behandelt, und die werden davon auch richtig krank oder gehen im wahrsten Sinne des Wortes daran zugrunde.“

Nach einer kurzen Pause fügt die Anwältin hinzu: „Wissen Sie, wenn Sie ein Streichholz haben und es umknicken, dann ist es sehr schnell kaputt. Wenn Sie ein paar mehr Streichhölzer haben, dann ist das schon sehr viel schwerer. Und wenn Sie richtig viele Streichhölzer haben, dann können Sie die irgendwann nicht mehr brechen.“ Die Anwältin sagt weiter, dass nach ihrer Wahrnehmung überwiegend Menschen betroffen seien, „die ihre Arbeit eigentlich ordentlich erledigen wollen. So wie mein Mandant.“ Ihm habe man mittlerweile in Aussicht gestellt, wegen des Arbeitsplatzkonfliktes entweder nach Görlitz versetzt zu werden oder aber „mit seinen 36 Jahren in Rente zu gehen“.

„Der Rechtsstaat wird ausgehöhlt“

Zwar sei Görlitz auch aus familiären Gründen keine Option, sagt Gregor S. Zudem gehe es ihm auch darum, „dass ich rehabilitiert werde. Ich habe nichts falsch gemacht. Warum soll ich also akzeptieren, dass ich abgestraft werde?“ Vor allem aber, sagt S., will er eine aus seiner Sicht „wichtige öffentliche und gesamtgesellschaftliche Debatte über die verkrusteten Strukturen und die daraus folgende Dysfunktionalität des Dienstes (gemeint ist der Verfassungsschutz, Anm. d. Red.) anstoßen“.

Der Dienst sei „eine Kakistokratie, also eine Herrschaft der Schlechtesten“. Er sehe, sagt S., „ein Pervertieren von Werten, ein Pervertieren der Grundpfeiler dessen, wie man sich die neue Gesellschaft nach Ende des Zweiten Weltkrieges gedacht hat. Das alles sehe ich als Bürger und auch als Beamter. Ich denke, man muss sich ernsthaft fragen, ob die Verantwortlichen innerhalb des Systems dafür zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Mindestens aber müsste man viel, viel kritischer mit den Entscheidungsträgern in den Diskurs gehen, intern und öffentlich.“

Denn die „derzeitige Melange“, sagt S., „höhlt den Rechtsstaat sehr viel stärker aus, als es irgendein Skinhead oder irgendein Autonomer jemals schaffen könnten.“

Das sagt der Verfassungsschutz zu den zentralen Vorwürfen

Wir konfrontierten das Bundesamt für Verfassungsschutz mit den zentralen Vorwürfen von Gregor S. und baten um eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat laut Eigenbeschreibung eine „Zentralstellenfunktion“ und koordiniert und unterstützt die einzelnen Verfassungsschutzbehörden der Länder bei der Aufgabenwahrnehmung.

In der Antwort heißt es: „Ohne die von Ihnen zitierten Aussagen im Einzelnen bewerten zu wollen, verweisen wir auf den Namensartikel von Thomas Haldenwang (Präsident des Bundesamtes, Anm. d. Red.) vom 1. April 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu diesem Thema.“ Die Überschrift des Beitrags lautet: „Die Meinungsfreiheit ist kein Freibrief für Verfassungsfeinde.“ Haldenwang schreibt in dem Beitrag zudem weiter: „Die Meinungsfreiheit hat Grenzen.“